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2002
vor 2001
 
Nur ein Kinderherz

Rolf Krenzer, ein Dillenburger Schüler, errang bei dem kürzlich in Dillenburg veranstalteten
"Musischen Wettbewerb" für seine Kurzgeschichte den ersten Preis. Wir bringen Ihnen hier
die Erzählung des kleinen Dillenburgers:

Langsam wird die Ladentür der Bäckerei am Marktplatz von außen her angedrückt, und mit
einem Druck öffnet sie sich einen Spalt breit. Ganz plötzlich ist das Gespräch verstummt.
Wir alle drehen uns erstaunt um. Nichts geschieht ... Durch den schmalen Schlitz wirft die
Sonne goldenen Strahlen auf den frisch bebohnerten, braunen Fußboden. Ganz entfernt hört
man das Ticken einer Uhr ... sonst nichts. Enttäuscht wandern meine Augen wieder zur
Theke und bleiben an den knusprig braunen Brötchen hängen. "Knacks", schon wieder.

Vorsichtig tastet sich ein kleines, schmutziges Händchen durch die Türöffnung, und noch
vorsichtiger wird ein dralles Beinchen nachgezogen. Jetzt wird es wieder still. Einen Augen-
blick nur. Dann fliegt mit einem Ruck die Tür auf. Kurze Zeit blendet mich das Sonnenlicht.
Schon ist die Tür wieder geschlossen. Trüb und düster erscheint mir jetzt der Raum.
"Onkel, guck mal, ich hab neue Schuhe." Ein kleines Patschhändchen umfasst meinen Arm.
Ich betrachte die schmutzigen Finger. Lange Zeit habe ich nicht dazu, denn schon zieht mich
ein kleines Kerlchen zu einem nahen Stuhl und kräht: "Onkel setzen!" Ich wundere mich
selbst, dass ich solch einem Knirps gehorche.

Nicht größer als ein Spazierstock, ein grünes Samtmützchen auf die semmelblonden Haare
gedrückt und den einen Arm in die Seite gestemmt, steht er vor mir. Ein kleines Stupsnäs-
chen schaut keck zwischen zwei Wangen hervor. Neugierig schimmern über der kirschroten
Unterlippe glänzend weiße Zähnchen. Strahlend blicken mich zwei große Augen an. Weiter
bin ich mit meinen Betrachtungen nicht gekommen. Zwei dicke Ärmchen haben sich um
meinen Hals geschlungen, und ebenso schnell sind ein Paar Beinchen auf meinen Schoß
geklettert. "Onkel, hast du auch so schöne Schuhe? Gell nicht? Hast du meine schon
gesehen?" "Nein." "Nicht? Willst du sie mal sehen? Guck mal, die haben ganz rotes Leder
und lauter grüne Ziepfel an den Riemen." "So schöne Schuhe habe ich noch nie gesehen."
"Siehst du auch die gelben Fäden an der Sohle? Gell, die Fäden an deiner Sohle sind nicht
so neu und glänzend?"

Er wartet auf keine Antwort, denn anscheinend hat er jetzt einen älteren hageren Herr an der
Theke entdeckt. Blitzschnell ist er von meinem Schoß geklettert und hat sich an die Hose
jenes Herren gehängt. "Onkel, ich hab neue Schuhe !"

Aber der hatte keine Zeit für ihn. Schroff setzt er seinen Fuß einen Schritt vor, dass der
kleine Kerl auf den Dielen ausrutscht und hinschlägt. Die Händchen noch immer an den
Hosenstoff geklammert. "Kannst du nicht aufpassen?!" Zornrot bückt sich der Herr und befreit
mit festem Griff das Kleidungsstück von den kleinen Fingern. "Meine neue Hose mit deinen
Drecksfingern zu beschmutzen ..."
Der Kleine hat sich wieder auf die Beine gestellt und starrt mit weitaufgerissenen Augen den
Schimpfenden an. Dann verzieht sich sein Mündchen ein wenig nach unten, immer mehr ...
immer mehr ... und aus den Augen pressen sich dicke salzige Tränen, rollen über die runden
Wangen, weiter bis auf das braune Höschen und tropfen langsam auf die neuen Schuhe.
Eine junge Frau ist hinzu getreten und nimmt das Häufchen Unglück in die Arme. "Komm,
Mutti kauft dir ein Brötchen, hat ja nicht weh getan." Ganz fest drückt er sich an die Mutti
und unter Tränen lächelt er: "Gell, meine Schuhe sind doch schön."


Dill-Post 1950